K. Kuhn: Entwicklungspolitische Solidarität

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Titel
Entwicklungspolitische Solidarität. Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zwischen Kritik und Politik (1975–1992)


Autor(en)
Kuhn, Konrad
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Samuel Misteli, Historisches Seminar, Universität Luzern

Die relativ kurze Karriere der Dritte-Welt-Bewegung als einer einflussreichen Kraft im schweizerischen Politikgefüge ist von der historischen Forschung bisher in wenigen, aber substantiellen Beiträgen aufgearbeitet worden. Konrad Kuhn knüpft als Autor der vorliegenden Studie – seiner an der Universität Zürich entstandenen Doktorarbeit – in erster Linie an die Dissertationen von René Holenstein und Monica Kalt an und schliesst dabei die bislang noch für die 1980er-Jahre bestehende Forschungslücke.1 Kuhn will, so macht er in der Einleitung deutlich, den Niedergang und schliesslichen Zerfall der Bewegung nachzeichnen, der sich zu Beginn der 1990er-Jahre unter anderem im Schwinden einer einst breiten Basis manifestierte. Orientierung im schwer überschaubaren Bewegungsgeflecht verschafft er sich einerseits durch die Fokussierung auf die grossen Schweizer Hilfswerke und die Erklärung von Bern, andererseits durch die Konzentration auf wesentliche «Diskursereignisse», an denen sich der Wandel der Bewegung exemplarisch festmachen lässt. Letzterer Entscheid gründet nicht nur in forschungspragmatischen Überlegungen, sondern auch in Kuhns methodischem Anspruch, «am Fallbeispiel der schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung eine Kulturgeschichte des Politischen [zu] schreiben» (S. 30).

Die sechs «Diskursereignisse» sind dabei durchaus geschickt gewählt: In Kapitel 2 entwirft Kuhn anhand des «Symposiums der Solidarität», das im Mai 1981 über 80 entwicklungspolitische Gruppierungen in Bern versammelte, ein Panorama der Dritte-Welt-Bewegung am Anfang der 1980er-Jahre. Unter dem Motto «Entwicklung heisst Befreiung» sollte das dreitägige Treffen die entwicklungspolitische Agenda für das kommende Jahrzehnt definieren. Standen die grossen Hilfswerke am Symposium noch abseits, weil sie als Partner der Entwicklungszusammenarbeit des Bundes die prononcierte Kritik an der offiziellen Entwicklungspolitik nicht mittragen konnten, erhielten sie bald darauf Gelegenheit, sich doch noch als Teil der (politischen) Dritte-Welt-Bewegung zu profilieren: Mit der 1983 lancierten Petition «Entwicklungshilfe ist eine Überlebensfrage», die in Kapitel 3 analysiert wird, wehrten sich die Hilfswerke erfolgreich gegen geplante Budgetkürzungen des Bundes in der Entwicklungszusammenarbeit. Allerdings beschreibt bereits Kapitel 4 die Hilfswerke und ihre Mitarbeitenden wieder als «Gefangene ihrer eigenen Institution» (S. 165), die sich im Abstimmungskampf über die von der SPS lancierte Bankeninitiative nicht exponierten, obwohl die von der Erklärung von Bern massgeblich mitgestaltete Volksinitiative entwicklungspolitische Kernanliegen berührte. Das umfangreiche Kapitel 5 thematisiert mit «Hunger» ein über Jahrzehnte hinweg zentrales Diskursmotiv der entwicklungspolitischen Debatten, wobei die Bemühungen der Dritte-Welt-Bewegung, ihre strukturorientierte Analyse des Hungerproblems in effektive Handlungsmöglichkeiten zu übersetzen, als wiederkehrendes Motiv figurieren. Die beiden letzten beschriebenen Diskursereignisse, die Schweizer Debatten um die Verschuldung der Dritten Welt (Kapitel 6) sowie das IWF/Weltbank-Referendum 1992 (Kapitel 7), zeigen schliesslich Differenzen nicht mehr nur zwischen Hilfswerken und linken Bewegungsakteuren, sondern zusehends auch innerhalb der einzelnen Organisationen.

Die IWF-Abstimmung – die aufgrund der Angst vor einer ungewollten Unterstützung isolationistischer Kräfte zu einer Zerreissprobe für die Bewegung geriet – stellte einen letzten erfolgreichen Versuch dar, die erlahmte Aufmerksamkeit der schweizerischen Öffentlichkeit für die stetig komplexer werdende Entwicklungsthematik kurzzeitig wiederzubeleben; das Referendum war – in Kuhns Urteil – «das letzte Diskursereignis in einer Geschichte der schweizerischen Dritte-Welt-Bewegung» (S. 396).

Besonders verdienstvoll an der vorliegenden Studie ist, dass es dem Autor gelingt, das umfangreiche Material so zu bündeln, dass sich die zahlreichen analytisch aufschlussreichen Nahaufnahmen entwicklungspolitischer Aktivität zu einem repräsentativen Panorama der komplexen Bewegungslandschaft zusammenfügen. Der Leser erhält so nicht nur präzise Einblicke in die Bemühungen der Bewegung, die politische Mechanik der Schweiz in ihrem Sinne zu beeinflussen, sondern auch eine stimmige Vorstellung vom Gesamtgepräge des Schweizer Dritte-Welt-Diskurses. Dabei erweist sich insbesondere der Verzicht auf eine durchgängig chronologische Darstellung zugunsten der Fokussierung auf einige beispielhafte Diskursereignisse als sinnvoll. Der exemplarische Blick wirkt sich aber insofern nachteilig aus, als die zentrale These eines kontinuierlichen Zerfalls der Dritte-Welt-Bewegung nur ungenügend plausibilisiert werden kann. Qualitativ neue Dimensionen der Frakturen innerhalb der Bewegung werden über die verschiedenen Kapitel hinweg kaum ersichtlich. Eher getragen wird die Erzählung deshalb vom strukturell bedingten Spannungsverhältnis zwischen politisch vorsichtig agierenden Hilfswerken und dezidiert kritischen entwicklungspolitischen Gruppierungen. Ein allmähliches Auseinanderfallen der Bewegung lässt sich aber an diesem Bruch, der keinem substantiellen Wandel unterworfen ist, nicht festmachen.

Dieser kritische Einwand soll indes nicht die Gesamtleistung der vorliegenden Arbeit schmälern: Sie zeichnet ein detailgenaues Bild einer Bewegung, die sich letztlich vergebens gegen den Verlust ihrer politischen Deutungsmacht stemmte – und ergänzt damit die Forschung zur Schweizer Dritte-Welt-Bewegung um wesentliche, bislang unbeleuchtete Dimensionen.

1 René Holenstein, Was kümmert uns die Dritte Welt. Zur Geschichte der internationalen Solidarität in der Schweiz, Zürich 1998; Monica Kalt, Tiersmondismus in der Schweiz der 1960er und 1970er Jahre. Von der Barmherzigkeit zur Solidarität, Bern 2010.

Zitierweise:
Samuel Misteli: Rezension zu: Konrad Kuhn: Entwicklungspolitische Solidarität. Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zwischen Kritik und Politik (1975–1992). Zürich, Chronos, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 518-519

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 518-519

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